Eurobike Show Daily 2023 - Tag 1
Lesedauer 4:30 Minuten

Die dunkle Seite des Booms: Gerichts- und Versicherungsfälle

Dirk Zedler: Fahrrad-Sachverständige

Höhere Preise, komplexere Technik: Die Zahl der Gerichts- und Versicherungsfälle, bei denen es um Fahrräder geht, steigt. Deshalb werden mehr Fahrradsachverständige gebraucht.

Im Grunde besteht kein Zweifel daran, dass die Fahrradbranche in den vergangenen Jahren sehr gute Arbeit geleistet hat. Nicht nur ausgeklügelte Antriebssysteme mit leistungsfähigen Akkus sorgten für einen deutlichen Anstieg der Verkaufszahlen an höherpreisigen E-Bikes, auch in weiteren Punkten wie Ergonomie, sicherem Bremsen, heller Beleuchtung und dem Transport von Kindern und Lasten wurden sehr große Fortschritte erzielt.
 
Ebenfalls erfreulich ist, dass dadurch neue und solvente Käuferschichten die Fahrradgeschäfte betreten und die teuren Fahrräder und E-Bikes tatsächlich auch gefahren werden. Alle diese Faktoren führen aber ebenfalls dazu, dass Fahrräder zunehmend Versicherer und Gerichte beschäftigen (müssen). Die Gründe dafür könnten nicht vielfältiger sein.
 

Teure Fahrräder – Hohes Regulierungsvolumen

Das größte Thema sind sicherlich Verkehrsunfälle Auto gegen Fahrrad. Allein in Deutschland sind laut statistischem Bundesamt im Jahr 2021 rund 84.000 Fahrradfahrende verunglückt. Bei einem großen Teil davon war der Kfz-Lenker der Verursacher, d.h. dessen Versicherung muss für den Schaden eintreten. Im Fachjargon wird dies Kraftfahr-Haftpflichtschaden genannt. Doch wie soll der Versicherer nun regulieren? Ist das Fahrrad oder E-Bike zu reparieren oder handelt es sich um einen Totalschaden? Sind Motor und Akku nach dem Zwischenfall noch intakt? Ist der Rahmen oder sind Vorder- bzw. Hinterrad aus Carbon noch sicher im weiteren Betrieb?
 
Fahrradhändler machen in diesen Fällen meist einen Kostenvoranschlag über die Reparatur, können und sollten aus guten Gründen aber über einige der oben genannten Punkte keine Auskunft geben. Traut der Versicherer dem Kostenvoranschlag des Fahrradhändlers nicht, beginnt viel zu oft ein sehr langer Weg, bis der geschädigte Fahrradfahrer den Schaden ersetzt bekommt.
 
Mithin haben einige Versicherungsunternehmen (digitale) Schnellbewertungspartner, die unserer Erfahrung nach Zahlen aufrufen, mit denen der Schaden bei Weitem nicht sachgerecht abgegolten werden kann.
 
Scheitert die Einigung mit dem Versicherer, bleibt dem geschädigten Radfahrenden nur noch der Gang zum Gericht. Ein oder zwei Jahre ziehen dann schnell ins Land, bis das Urteil gesprochen und im Ergebnis der Schaden beglichen werden kann.
 

Henne oder Ei – Unfallfolge durch Materialversagen?

Deutlich seltener, aber dennoch kommt immer es wieder mal zu Unfällen, bei denen der Radfahrende allein, das heißt ohne Fremdbeteiligung schwer stürzt. Gerne wird so etwas vom Fahrradfachhändler oder auch von Polizisten, die den Unfall aufnehmen, mit einem Fahrfehler abgetan oder der gebrochene Lenker als Unfallfolge angesehen.
 
Ist es aber tatsächlich so einfach gelagert gewesen? Hat das Bauteil die Betriebsfestigkeit aufgewiesen, die für den Einsatz notwendig war? Wurden die richtigen Bauteile kombiniert? War die Montage fachgerecht? Hat die Fahrstabilität ausgereicht?
 
Fragen über Fragen, die oft gar nicht gestellt, geschweige denn mit der notwendigen Expertise fundiert beleuchtet werden.
Im Ergebnis bleiben Unfallursachen ungeklärt, eine faire Aufarbeitung findet nicht statt.
 

Mangel am Rad, Wartungsstau oder Kaufreue?

Deutlich häufiger als Materialversagen mit Unfallfolge auftreten, werden Mängel am Fahrrad seitens der Käufer reklamiert. Häufige Reklamationsgründe sind Geräusche am Fahrrad oder E-Bike, zu geringe Reichweite des Akkus, zu wenig Drehmoment des Motors, ungenügende Schalt-Performance, zu schneller Verschleiß, unpassende Rahmengröße, und und und.
 
Für viele Radhändler sind dies altbekannte Themen, sozusagen Alltagsgeschäft. Mitnichten allerdings können solche Reklamationen zwischen Händler/Hersteller und Kunde immer zufriedenstellend und abschließend geklärt werden. In meiner persönlichen Erfahrung als Sachverständiger bei Gericht war der Tiefpunkt bemängelte Geräusche vom Antrieb. Bei der Untersuchung ergab sich jedoch, dass die Kette lediglich ungenügend geschmiert war. Und das hatte ich sogar in zwei Gerichtsprozessen.
 
Ein paar Tropfen Öl hätten zwei monatelange Prozesse und Kosten in Höhe von mehreren tausend Euro pro Fall vermieden.
 

Fundierte Klärung – echte Fahrrad- und E-Bike-Sachverständige gefragt

Allein in Deutschland gibt es mehrere hundert Sachverständige, die auf dem Gebiet der Kraftfahrzeuge öffentlich bestellt und vereidigt sind. Das Netz der Sachverständigen ist flächendeckend, so dass Gerichten, Anwälten und Versicherern genügend Experten für die professionelle Aufarbeitung aller möglichen Fragestellungen rund ums Kfz auch regional zur Verfügung stehen. Aus diesem Grund gibt es für viele Fragestellungen auch höchstrichterliche Urteile, die für die Branche sozusagen bindend sind. Das hilft Handel und Industrie enorm.
 
Und in Sachen Fahrrad? Wie viele Fahrrad-Sachverständige sind derzeit in Deutschland wohl auf demselben Niveau zertifiziert? Gerade einmal zehn.
 
Das ist ein Unding und wird dem Stand des Fahrrades weder hinsichtlich dessen Technik, seinem Stellenwert als Verkehrsmittel und Sportgerät noch hinsichtlich dem damit einhergehenden Finanzvolumen gerecht.
 
Als Resultat werden gezwungenermaßen allzu oft fachfremde Sachverständige herangezogen, die oft genug mehr Schaden anrichten, als sie nutzen. Denn ist erst einmal ein nicht fach- bzw. sachgerechtes Gutachten im Umlauf, kann es lange dauern und mithin sogar misslingen, dieses aus der Welt zu räumen.
 

Chancen und der Weg zum Ziel

Im Ergebnis sollten wir als Branche uns nicht nur darauf konzentrieren, prima Produkte zu verkaufen, sondern auch die Nachsorge professionell aufzustellen. Dazu gehört es eben auch, sich den Schattenseiten zu stellen. Das technische Wissen, um Schäden und Mängel zu beurteilen, ist vielerorts vorhanden, jetzt gilt es Fahrrad-Könner zu Sachverständigen weiterzubilden.
 
Voraussetzung ist der Titel des Meisters, Technikers, Bachelors oder Masters und fundierte Fahrrad-Sachkenntnis, sowie mehrere Jahre Arbeit in der Fahrrad-Branche.
 
Weiterbildungen zum Sachverständigen bietet z.B. die Gesellschaft der Fahrrad-Sachverständigen www.gdfs.bike an.
 
Empfehlenswert ist auch die Mitgliedschaft im Bundesverband der Fahrrad-Sachverständigen e.V., www.bdfs.de. Dort haben sich einige Fahrrad-Sachverständige zum Erfahrungsaustausch zusammen geschlossen.
 
Gute Fahrrad-Sachverständige sind ein Mosaikstein in der Professionalisierung der gesamten Fahrradbranche auf dem Weg zur echten und ernst zu nehmenden Mobilitätsalternative für kurze und mittlere Strecken.
 
Foto: Zedler-Institut
 
Lesen Sie den Artikel in der publizierten englischen Version.
 

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